- Lepenski-Vir-Kultur
- Lepenski-Vir-KulturDer nordwestliche Balkan, speziell das Gebiet des heutigen Ungarn und Rumäniens, brachte gegen Ende der Altsteinzeit technologische Besonderheiten hervor. Als »Tardi-Gravettien« bezeichnet, setzte sich diese Kultur mit deutlich eigenen Wesenszügen bis in die Klimaphase des Boreal (um 5500 v. Chr.) fort, immer bemüht, benachbarte Entwicklungen aufzugreifen, ohne jedoch eine gewisse Eigenständigkeit zu verlieren. Die Fundstelle Vlasac und die ältesten Schichten von Lepenski Vir belegen dies auch für die späte Mittelsteinzeit auf dem Balkan. In Lepenski Vir fanden sich zudem Zeugnisse künstlerischer Tätigkeit sowie besondere Hausformen und Gräber, die auf den ersten Blick rätselhaft wirken und diesem Raum eine ganz ungewöhnliche Sonderstellung zuweisen.Zu Beginn des Spätmesolithikums, das heißt circa 6500/6000 v. Chr., änderten sich europaweit die Umweltbedingungen, sodass auch für Jäger-und-Sammler-Gruppen der Übergang zur Sesshaftigkeit erstmals erhebliche Vorteile mit sich brachte. Dauerhafte Niederlassung in den Flusstälern und an Seeufern wurde zu einem kalkulierbaren Risiko, denn man spezialisierte seinen Nahrungserwerb auf den Fischfang und das Sammeln von Muscheln. Diese wenngleich oft nur saisonale Ortsgebundenheit erlaubte es, Bereiche der materiellen Kultur erheblich zu erweitern; dies sollte nicht zuletzt auf einen tief greifenden Gesellschaftswandel hinauslaufen. Besonders auffällig entwickelten sich jene Gruppen im Djerdapgebiet, wo sie eine »kleine, aber feine« Kultur ausbildeten. Diese Kultur lässt sich durchaus in den gesamteuropäischen Entwicklungsprozess eingliedern, denn ihre Besonderheit umfasste nur bestimmte Lebensbereiche.Im Jahre 1965 wurden auf einem schmalen Uferstreifen, dort wo die Donau die Grenze zwischen Rumänien und dem früheren Jugoslawien bildet, unter jüngeren Fundschichten gleich sieben mittelsteinzeitliche Siedlungen mit ganz ungewöhnlichen Hinterlassenschaften aufgedeckt. Der in kürzester Zeit international bekannt gewordene Ort Lepenski Vir sollte dieser Kultur den Namen geben, wurde doch in den Folgejahren ein rundes Dutzend weiterer Fundorte bekannt, so Vlasac, Padina, Icoana und Schela-Cladovei, sämtlich unweit des Eisernen Tores, dem Donaudurchbruch zwischen den Südkarpaten und dem serbischen Erzgebirge, in einer dramatischen Karstlandschaft gelegen. Besonders überraschend waren die Reste kunstvoll und systematisch geplanter Häuser, die Gräber mit Hinweisen auf seltsame Bestattungspraktiken sowie eine Fülle meisterhaft aus Stein, Knochen und Hirschgeweih gefertigter Werkzeuge und nicht zuletzt eindrucksvolle Steinskulpturen.Der Grundriss der an der Stirnseite 5,5 bis 30 m breiten, an der Rückseite bis zu 2 m schmalen Häuser ist stets trapezförmig mit leicht gebogener Basis. Die Fußböden bestehen aus zerstoßenem, festgestampftem rotem Kalkstein, der die Geländeunebenheiten vollständig ausgleicht. Die Anordnung der Pfostenlöcher lässt für den Oberbau ein Satteldach vermuten. In der Mitte der Häuser ein wenig zum Eingang hin vorgeschoben ist ein rechteckiges Becken in den Boden eingelassen und zum Teil mit großen Steinblöcken ausgelegt. Diese »Steintröge« scheinen jedoch zu aufwendig, um sie als profane Herde anzusehen. In ihnen fanden sich verbrannte Reste der Jagdbeute, keine Haustierreste. Vor und hinter den Herden stehen meist Steinskulpturen, in deren Nähe sich Steinpodeste finden, die oft als Altar gedeutet werden. Ein Viertel der Grundfläche ist deshalb als heiliger Bezirk anzusehen. In späterer Zeit rücken die Feuerstellen in das Zentrum der vergrößerten Behausungen. In erster Linie scheint den Häusern eine kultische Bedeutung zuzukommen, jedoch zeigt das darin geborgene Inventar, dass sie ebenso als Wohnstätte fungierten. Hervorzuheben ist, dass sich in sämtlichen Siedlungen ein freier Platz und ein zentraler Bau fanden, deren Funktion miteinander in Verbindung zu bringen ist, da offensichtlich beide der Gemeinschaft dienten.Die Beisetzung der Toten erfolgte vornehmlich als Körperbestattung im Freien und im Innern der Häuser. Angesichts einer ansonsten so systematisch vorgehenden Kultur überrascht es freilich, dass die Lage der Toten unterschiedlich sein konnte, auch in der Orientierung nach verschiedenen Himmelsrichtungen. Offensichtlich kam man damit dem jeweiligen Status der Verstorbenen nach, vielleicht auch ihren individuellen Gewohnheiten. Dementsprechend variieren auch die Grabbeigaben, die zwar grundsätzlich selten sind, aber ein großes Spektrum aufweisen. Gelegentlich wurde einem Toten sein Hund mitgegeben, anderen der Kopf eines Hirsches oder eines Wildrindes. Indes stehen die Bestattungssitten in mesolithischer Tradition. Jener Tote, der auf dem Rücken liegend mit gespreizten Beinen beigesetzt wurde und somit die Trapezform der Häuser aufzugreifen scheint, stellt eine Ausnahme dar. Die gesamte materielle Kultur ist mesolithisch, die zahlreichen Geweihhacken, Knochenharpunen mit Widerhaken, Geschossspitzen und Angelhaken erzählen von Jagd und Fischfang an der Donau. Daneben bestand ein hoher Entwicklungsgrad in der Herstellung kleiner Anhänger und Nadeln, die vermutlich auch als Amulette getragen wurden.Berühmt wurde diese südosteuropäische Kultur durch die Steinskulpturen, die vor und hinter den Herden und bei den Steinaltären aufgestellt waren. Diese eindringlichen eiförmigen oder vielflächig gearbeiteten, maximal 50 cm hohen Figuren finden sich neben unbearbeiteten grobkörnigen Sandsteingeröllen, die man offenbar aufgelesen hatte, weil ihre Form der menschlichen Gestalt ähnelte. Die Skulpturen, körperlose Köpfe oder solche mit reduziertem Körper, zeigen teilweise Gesichtszüge, teilweise auch geometrisch wirkende Muster. Manche Menschenköpfe tragen zugleich fischartige Züge, sind glotzäugig und haben karpfenartige Mäuler. Der reduzierte Körper kann auch Vogelmotive aufweisen. Diese »Fischgötter« mit ihren weit aufgerissenen Augen strahlen eine geradezu bedrückende Stimmung aus. Auch sind Wildrinder mit plastisch ausgearbeiteten Hörnern gefunden worden, wobei diese Tierdarstellungen an bestimmte, geographisch weit abliegende, etwas jüngere Skulpturen der Sahara erinnern.Zweifelsohne nehmen die Stationen der Lepenski-Vir-Kultur eine Sonderstellung innerhalb des Mesolithikums ein. Ihre kulturellen Errungenschaften sollten weder unterbewertet noch in ihrer Eigenständigkeit angezweifelt werden. Jedoch lassen sich ähnliche Prozesse einer beginnenden Sesshaftigkeit, wenngleich im Fundmaterial weniger eindeutig nachweisbar, zeitgleich im gesamten ost- und mitteleuropäischen Raum feststellen. So erhält man zunächst den Eindruck, als sei hier am Eisernen Tor, in geographischer Abgeschiedenheit, der kulturelle Quantensprung der Sesshaftwerdung des Menschen erfolgt. Genau besehen handelte es sich jedoch »nur« um eine optimale Anpassung an die naturräumlichen Gegebenheiten, eine Bezogenheit auf das Leben am großen Strom, die neue Ideen entstehen ließ. Als sich jedoch in den angrenzenden Gebieten die frühe Jungsteinzeit mit Ackerbau, Haustierhaltung und nicht zuletzt der neuen Technik der Keramik herausbildete, blieben die Menschen im Umkreis von Lepenski Vir dieser weiteren Entwicklung gegenüber verschlossen, bis etwa um 5500 v. Chr. eine einzigartige und rätselhafte Kultur verschwand.Dr. Erwin CzieslaLouboutin, Catherine: Steinzeitmenschen. Vom Nomaden zum Bauern. Ravensburg 1992.Mellink, Machteld J. und Filip, Jan: Frühe Stufen der Kunst. Berlin 1974. Nachdruck Frankfurt am Main u.a. 1985.
Universal-Lexikon. 2012.